Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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Alt-Pernau (Vana-Pärnu)

Alt-Pernau (Vana-Pärnu)

(1) A. im heutigen Estland lag am Zufluss des Perona-Baches in den anfänglich Embecke genannten Fluss Pernau, unmittelbar vor dessen Mündung in den Rigaer Meerbusen. Hier trafen mehrere Landwege auf die Wasserstraße, die an den Knotenpunkten Fellin und Dorpat vorbei über den Peipussee zu den östlichen Handelszentren Pleskau und Novgorod führte. Der Pernaufluss war 1234 vom päpstlichen Legaten Wilhelm von Modena zur Grenze zwischen den Territorien des Bf.s von Ösel und des Schwertbrüderordens, der drei Jahre später im Deutschen Orden aufging, bestimmt worden. Die Stadt Perona wurde in den folgenden Jahren von Bischof Heinrich (1234–1260) gegründet, um nach kirchenrechtlichen Bestimmungen als Bf.sstadt bzw. Residenz dienen zu können. Die Kirche war 1251 soweit fertiggestellt, dass sie zur Kathedralkirche erhoben werden konnte mit dem Patrozinium des Stiftsheiligen, des Evangelisten Johannes. Eine mit ihr verbundene Burg war Wohnstätte für den Bischof und das im selben Jahr eingerichtete zwölfköpfige Domkapitel.

1263 wurde die Stadt durch einen Einfall der Litauer zerstört. Um Hafen und Handelsroute künftig zu schützen, errichtete der Deutsche Orden am gegenüberliegenden Ufer eine eigene Burg (Nienslott tor Embecke) und legte den Grundstein für die Stadt Neu-Pernau, die sich zur viertgrößten Hansestadt Livlands entwickelte. Wahrscheinlich verzichtete der Bischof von Ösel auf die Instandsetzung seiner Burg, um der engen Nachbarschaft mit dem Orden auszuweichen. Der Kathedralsitz und die bischöfliche Residenz wurden nach Hapsal verlegt, wodurch A. nach nur einem Jahrzehnt der Bedeutungslosigkeit preisgegeben wurde.

(2) A. blieb nach 1263 nicht lange verwüstet und unbewohnt, die für 1307 in Perona gemeldeten ordensfeindlichen Verhandlungen zwischen dem Bischof von Ösel und der Stadt Riga fanden sicher hier und nicht in Neu-Pernau statt. Doch Kirche und Stadt brannten 1473 im Zuge eines ordensinternen Machtkampfes nieder sowie 1533 in der Wiekschen Fehde. Im Livländischen Krieg ab 1558 wurde die Stadt mehrmals geplündert und niedergebrannt, spätestens 1617 war die ehemalige Kathedralkirche komplett zerstört. Mit der Auflösung der livländischen Landesherrschaften 1561 wäre die Voraussetzung gegeben gewesen, dass die getrennten Herrschafts- und Stadtgebiete von A. und Neu-Pernau ineinander aufgingen. Das mächtigere Neu-Pernau ließ jedoch nicht zu, dass A. erneuert wurde und seine im Vergleich bescheidenen Handelsgeschäfte und Gewerbe wieder aufnahm: 1599, 1611 und 1617 wurden polnische und schwedische Erlasse erwirkt, dass die kleinere Stadt zerstört werden solle bzw. ihr Wiederaufbau verboten sei – A. fiel endgültig wüst.

Erste Spuren einer Ratsverfassung sind ab 1412 durch Schreiben von Bürgermeister und Rat zu A. auszumachen, mit einem Siegel ab 1427, das in der einen Hälfte einen Bischofskopf und in der anderen Hälfte den halben Adler des Evangelisten Johannes zeigt. Der Rat bestand aus einem Bürgermeister, zwei Ratsmännern und dem Stadtvogt, im 16. Jahrhundert aus zwei Bürgermeistern, vier Ratsmännern und dem Vogt. Das Bürgermeisteramt wurde nicht lebenslänglich vergeben, da ehemalige Bürgermeister als Ratsleute und Vögte erscheinen. Eine Einflussnahme des bfl.en Stadtherrn auf die Bürgermeister- und Vogtwahl ist nur in einem einzigen Fall bekannt: Bischof Johann von Münchhausen (1541–1560) ernannte 1551 sowohl den Bürgermeister als auch den der Gruppe der bfl.en Amtsträger entstammenden Vogt. Zuvor scheint es eine Phase der größeren Selbständigkeit gegeben zu haben, da die meisten Vögte seit Ende des 15. Jahrhunderts der Bürgerschaft entstammten. Zudem ist nur bis ins erste Viertel des 16. Jahrhunderts belegt, dass der bischöfliche Amtmann vom Hof Audern bei Ratsversammlungen und im Gericht zugegen war, danach blieben hier Bürgermeister, Vogt und Ratsleute unter sich. Die Gerichtsgefälle wurden zwischen Bürgermeister, Stadtvogt und Gemeinnutz geteilt. Der generelle Einfluss des bfl.en Herrn zeigt sich jedoch im Stiftsvogt als Appellationsinstanz vom städtischen Gericht. Bürgermeister und Stadtvogt konnten die Stadt alleine nach außen vertreten: Wenige Tage nach seiner Wahl zum letzten Bischof von Ösel empfing Münchhausen Huldigung und Treueeid seiner Städte, so auch vom Bürgermeister und vom Vogt zu A.

Ein Stadtrecht wurde nie verliehen, wohl weil die Fortentwicklung der Civitas Perona gleich zu Beginn durch den Verlust des Residenztitels gehemmt wurde. Die wichtigste Überlieferung der livländischen Kleinstadt, das von 1451 bis 1597 aus allen städtischen Registern schöpfende Erbebuch, verzeichnet A.s Rechtsgrundlagen. Das im gesamten Öseler Stift geltende Landrecht sowie die von den Bf.en verliehenen Privilegien bestimmten seinen Rechtsstatus. Dass die Stadt wie bisher nach dem ihr von Bischof Jakob (1322–1337) verliehenen Rechtsbuch – dem als Livländischen Spiegel integrierten Sachsenspiegel – als stiftischem und nicht nach rigischem Recht urteilen solle, forderte der Bischof noch 1551. Einmalig waren die Zugeständnisse von 1537: Der in der Wiekschen Fehde von bfl.en Truppen verheerten Stadt gelang es, Bischof Reinhold von Buxhövden (1530–1541) sowohl die Bestätigung der althergebrachten Privilegien als auch rechtliche Neuerungen abzuringen. Die Stadt erhielt im Gebiet der Auderner Wildnis das Recht zur freien Holzung, das Fischereirecht im Meer und bis zur Mitte des Flusses sowie das Recht zum zoll- und akzisefreien Handel mit den ankommenden Schiffen. A. wurde zudem das ganze Gericht an Hals und Hand, ausdrücklich über eddell edder uneddell zugestanden. Eine umfangreiche Übertragung kirchlichen Landbesitzes vergrößerte die Stadtmark.

Der Stadtgrundriss und die bauliche Entwicklung sind unbekannt. Gesichert ist, dass es keine Stadtmauer gab. Für das Stadtgebiet können ungefähr 30 bis 40 Bürgerhäuser angenommen werden, zu denen die Häuser der übrigen deutschen und nicht-deutschen Einwohner (einheimische Esten bzw. Letten) hinzukamen. A. hatte ca. 1000–1400 Einwohner und setzte sich aus zwei Dritteln deutscher Bevölkerung, deren wohlhabende Mitglieder im Rat saßen, und etwa einem Drittel nicht-deutscher Bevölkerung zusammen, die vor allem als niedere Handwerker, Kleinhändler, Fischer, Hilfsarbeiter und in dienender Stellung tätig waren.

Eine viermal jährlich zu verlesende Bursprake regelte das Leben in der Stadt, Bürgerrechte wie Brotbacken und Bierbrauen als auch Bürgerpflichten wie Nachtwache und Feuerschutz, die Umgangsformen, das Gerichtswesen und den Handel. Der Handel A.s war zwar viel bescheidener als der Neu-Pernaus, aber nach Landwirtschaft und Fischerei eine Haupteinkommensquelle. Während Neu-Pernau vor allem an den Überseehandel angeschlossen war, beteiligte sich A. am Küsten- und Binnenhandel. Eine für 1456 belegte Gilde existierte sicherlich schon früher. Die Regelungen zum Handel in der Bursprake bevorzugten die Deutschen vor den Nicht-Deutschen und untersagten strikt Geschäfte mit Neu-Pernauern. Für keine andere livländische Stadt sind so viele Bestimmungen zu den Nicht-Deutschen überliefert. Diesen war zwar das Bürgerrecht nicht verwehrt, doch stand dem zumeist ihre wirtschaftliche Unterlegenheit entgegen.

(3) Die ehemalige, 1263 zerstörte Kathedralkirche wurde wieder aufgebaut, erhielt aber mit dem hl. Thomas ein neues Patrozinium und bildete bis zum Ende des livländischen Mittelalters 1561 den Mittelpunkt eines großen Kirchspiels auf dem Gebiet der heutigen Landgemeinden Audern (Audru) und des südlichen Testama (Tõstamaa). Die Reformation scheint in A. verspätet Fuß gefasst zu haben, denn noch 1533 wirkte an der Thomaskirche ein katholischer Pfarrherr. Doch schließlich musste der durch die Wieksche Fehde geschwächte Bischof Buxhövden in die Bestätigung der städtischen Privilegien 1537 auch reformatorische Neuerungen einbinden: Den Bürgern wurde nicht nur gestattet, der lutherischen Lehre zu folgen, ihnen wurde für die Gottesdienste und zur Versorgung der Pastoren die St. Thomas-Kirche mit allem dazugehörigen Landbesitz gegeben. Nach der mehrfachen Zerstörung und Aufgabe der Stadt im Livländischen Krieg gab Karl XI. 1660 die Steine der Ruine von St. Thomas zum Bau der Neu-Pernauer Stadtschule und eines Hospitals frei.

(6) Die Ausmaße und das Stadtbild des endgültig im 17. Jahrhundert wüstgefallenen A.s sind unbekannt, seine Fläche wurde von der jüngeren Ordensstadt Neu-Pernau vereinnahmt. Die Funktion als Residenzstadt hatte A. nur wenige Jahre behaupten können. Während des gesamten livländischen Mittelalters bis 1561 blieb es in politischer Abhängigkeit vom bfl.en Landesherrn, wenn auch eine funktionierende, phasenweise ungestörte Selbstverwaltung zutage tritt. Wiederholte, gravierende Kriegszerstörungen und mangelnde wirtschaftliche Bedeutung erschwerten es A., sich den Einwirkungen der Bischöfe zu widersetzen.

(7) Ungedruckte Quellen zur Öseler Geschichte liegen vor allem in Kopenhagen, Dänisches Reichsarchiv, Fremmed Proveniens, Livland, Oesel Stift Registrant 1a, 1b, 2a, 2b, 4a. – Gedruckte Quellen im Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch, I, Bde. 1–12 (1853–1910); II, Bde. 1–3 (1900–1914). – Edition des Erbebuches und der Bursprake, in: Russwurm, Carl: Nachrichten über Alt-Pernau, Reval 1880.

(8)Russwurm, Carl: Nachrichten über Alt-Pernau, Reval 1880. – Laakmann, Karl Heinrich: Privileg des Bischofs Reinhold von Buxhöveden für die Bürger von Alt-Pernau 1537, in: Sitzungsberichte der Altertumforschenden Gesellschaft zu Pernau 7 (1914) S. 279–283. – Stackelberg, Friedrich von: Der Landbesitz im Kreise Pernau zur Ordenszeit, in: Sitzungsberichte der Altertumforschenden Gesellschaft zu Pernau 8 (1914–1925) S. 35–44. – Ligers, Ziedonis: Geschichte der baltischen Städte. Von ihren Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Bern 1948.

Henrike Bolte