Residenzstädte im Alten Reich (1300-1800)

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(Bad) Gandersheim

(Bad) Gandersheim

(1) G. liegt im südwestlichen Harzvorland am Südausgang der Heberbörde, einer Landschaft mit fruchtbaren Lößböden, die durch Höhenzüge im Osten, Westen und Süden begrenzt wird. Bestimmt wird seine Lage durch die zur Leine fließende Gande, die sich im Tal mit der Eterna vereinigt. Die Nähe zu wichtigen Handelsstraßen (Süd-Nord-Verbindung von Mainz/Frankfurt/Fulda nach Lüneburg und der in Ost-West-Richtung verlaufende Hellweg mit dem Weserübergang bei Höxter) hat die Entwicklung des Orts wesentlich befördert.

Ausgehend von den liudolfingischen Siedlungszentren Altgandersheim und Brunshausen kam es Mitte des 9. Jahrhunderts zur Gründung des Sanktimonialenkonvents G. Die Äbtissinnen dominierten bis in das beginnende 14. Jahrhundert als Markt- und Stadtherrinnen die Entwicklung G.s, mussten sich aber zunehmend welfischer Konkurrenz erwehren. Nachdem die welfischen Herzöge im 13. Jahrhundert die Vogtei über das Reichsstift erworben und spätestens Ende des 13. Jahrhunderts eine Burg nördlich des Stiftsbezirks errichtet hatten, bauten sie G. als Amtssitz aus. Unter Herzog Wilhelm II. von Braunschweig-Wolfenbüttel, Fürst von Calenberg-Göttingen (1484–1495), entwickelte sich der Ort zur Residenzstadt. Wilhelm errichtete ein Stadtpalais für seine in G. residierende Gattin Elisabeth. Als Mitresidenz auch unter Herzog Heinrich dem Jüngeren (1514–1568) genutzt, wurde G. in den ersten Regierungsjahren Herzog Julius’ (1568–1589) zunächst weiter ausgebaut, unter anderem 1571 durch die Errichtung eines »Paedagogium illustre«, das jedoch bereits 1574 nach Helmstedt verlegt wurde. Das Stiftskapitel entging während der Reformation der Auflösung, es existierte als protestantisches reichsfreies Kanonissenstift bis 1802/10 weiter. 1593 wurde das Verhältnis zum Landesherrn vertraglich neu geregelt und die Reichsfreiheit gesichert. Nach 1600 war G. Amtsstadt und behielt bis zum Dreißigjährigen Krieg lediglich als Tagungsort der Landstände einige Bedeutung. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert prägte das Kanonissenstift wieder die Entwicklung G.s, wobei insbesondere das Hofleben der Äbtissinnen Henriette Christine (1693–1712), Tochter Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel, und Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen (1713–1766) hervorzuheben ist.

Kirchlich gehörte G. bis zur Reformation zum Bistum Hildesheim. 1568 berief Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel den ersten Generalsuperintendenten nach G. (1728 nach Seesen verlegt).

(2) Ausgangspunkt der Siedlungsentwicklung war die Verlegung des Kanonissenstifts nach G. in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Westlich der Stiftsburg mit Stiftskirche und Konventsgebäuden entwickelte sich die Marktsiedlung. Der Marktplatz mit der Mauritiuskirche und dem späteren Rathaus befand sich zwischen dem Stift und dem möglicherweise ebenfalls in der Frühzeit entstandenen Wiek am Gandelauf auf der Höhe der Georgskirche.

Seit dem 13. Jahrhundert bilden sich entlang der Fernstraßen Vorstädte aus: im Osten des Stiftsbezirks das Marienkloster mit der Marienvorstadt und dem Neuen Dorf, im Nordosten der Hagen, der im Zuge des Ausbaues der hzl.en Burg in die Stadtbefestigung einbezogen wurde. Im Westen wurde die Steinweg-Siedlung ausgebaut und durch die Verlegung der Gande im 16. Jahrhundert in den Befestigungsgürtel aufgenommen.

Die Bevölkerung bestand zum einen aus den Stiftsangehörigen (Kanonissen- und Kanonikerkapitel, Ministerialen, Bedienstete, Schüler). Die Kanoniker entstammten dem niederen Adel und dem G.er Bürgertum, auf Seiten des welfischen Amtes waren es zunehmend hzl.e Amtsträger und Bedienstete. Zum anderen prägten Kaufleute und die für den regionalen Handel produzierenden Handwerker die Marktsiedlung. Im späten 14. Jahrhundert wurden vom Herzog sieben Gilden bestätigt.

1334 erlaubte die Äbtissin dem erstmals erwähnten Rat und der Meinheit, die Stadt mit einer Mauer und mit vier Toren (entsprechend den Handelswegen) zu befestigen (Moritz- oder Galgentor im Süden, Georgstor im Westen, Hagentor im Nordosten, Marientor im Osten). Ab 1520 wurde ein Wallring mit Außengraben errichtet, der Siedlungsbereiche wie das Marienkloster vor dem im Osten gelegenen Marientor einbezog.

Der Stiftsbezirk, die Klöster St. Marien, Clus und Brunshausen sowie die Häuser der Geistlichen und der Ministerialen unterstanden der Rechtsprechung der Äbtissin. Der Vogt bzw. hzl.e Amtmann sprach in der westlich des Stifts entstandenen Marktsiedlung und den Vorstädten Recht. Seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert wurde der Rat an der niederen Gerichtsbarkeit beteiligt, allerdings beschnitt das hzl.e Amt seit dem 16. Jahrhundert wieder dessen Kompetenzen.

(3) Das reichsfreie und seit 1206 exemte Kanonissenstift SS. Anastasius und Innozenz dominierte das kirchliche Leben im vorreformatorischen G. Mehrere um G. gelegene Klöster waren Tochtergründungen des Stifts: das Benediktinerinnenkloster St. Marien (zwischen 939 und 973), das Benediktinerkloster Clus (vor 1127) und das Benediktiner-, später Benediktinerinnenkloster Brunshausen (gegründet vor 1134). Außerdem war die G.er Hauptpfarrkirche St. Georg seit 1464 dem Stiftskapitel inkorporiert. Die Pfarrei war von jeher – von Ausnahmen abgesehen – an einen der Stiftskanoniker als Pfründe vergeben worden. Die westlich der Stiftskirche befindliche Pfarr- und Marktkirche St. Mauritius war der Georgskirche als Filialkirche unterstellt. Die pfarrkirchlichen Funktionen für die Angehörigen des Reichsstifts übten die Stiftskanoniker selbst aus. Auch im Hospitalwesen war das Kanonissenstift aktiv: Nach dem Erscheinen einer Heilquelle wurde in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts das Hospital zum Hl. Geist im Westen der Stadt gegründet (bis heute als Stiftung bestehend). Am Hospital entwickelte sich ein Beginenkonvent (1428 erstmals erwähnt).

Erst im Zuge des Ausbaus G.s zur welfischen Residenz entstand ein vom Stift unabhängiges Kloster: 1501 wurde auf Initiative Herzog Heinrichs d. Ä. von Braunschweig-Wolfenbüttel den Franziskaner-Observanten ein Grundstück südlich der Wilhelmsburg übereignet. Das Franziskanerkloster fungierte als Hofkirche, Herzog Heinrich d. J. besaß ein eigenes Gemach über dem Kreuzgang. In der Kirche wurden 1517 dessen Sohn Andreas und 1520 die Witwe Herzog Wilhelms d. J. beigesetzt. Außerdem fand hier 1532 das Scheinbegräbnis der Geliebten Herzog Heinrichs d. J., Eva von Trott, statt. Nach Auflösung des Klosters infolge der ab 1568 eingeführten Reformation wurden die Gebäude des Klosters 1571 für kurze Zeit Sitz des neuen Paedagogiums. Bereits 1568 hatte Herzog Julius den protestantischen Pfarrer Hermann Hamelmann zum Superintendenten und Stiftsprediger berufen.

G.er Juden lassen sich nur indirekt aus der Benennung von Personen in Hildesheimer Quellen der Jahre 1398 bis 1449 mit dem Zusatz »van Gandersem« sowie aus einem im G.er Stadtbuch überlieferten Judeneid belegen. Im 16. und 17. Jahrhundert werden einzelne Juden genannt. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zur Ansiedlung einer jüdischen Gemeinde, 1785 ist erstmals eine Synagoge belegt.

(4) Die im 12. Jahrhundert erbaute Stiftskirche mit ihrer markanten Doppelturmfassade prägt bis heute das Stadtbild. Im ausgehenden 16. Jahrhundert entstand der repräsentative Anna-Erika-Bau im Stil der Weserrenaissance. Äbtissin Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen ließ seit 1713 im nördlich vor der Stadt gelegenen Brunshausen ein Sommerschloss für ihre Kunst- und Naturaliensammlung sowie seit 1728 zwei Flügel der Abtei um einen Barockgarten ausbauen.

Die hzl.e Burg wurde im 16. Jahrhundert im Stil der Renaissance umgestaltet. 1528/30 wurde die Anlage um einen zentralen Hof errichtet. Der Komplex ist in die Stadtbefestigung integriert und von Herzog Julius weiter ausgebaut worden. Ende des 16. Jahrhunderts fanden hier Hoflager und zeitweilig das Landesgericht statt. Ende des 15. Jahrhunderts wurde zudem die nicht erhaltene Wilhelmsburg als hzl.es Stadtschloss für Herzogin Elisabeth von Stolberg auf einem zum Teil zur Stiftsimmunität gehörenden Gelände errichtet. Das in der Ansicht von Merian (1652) wiedergegebene mehrgeschossige, mit zwei Treppentürmen und Fachwerkgiebeln ausgestaltete Stadtpalais bildete mit dem Barfüßerkloster und seiner Kirche bis zur Reformation das eigentliche Zentrum der hzl.en Residenz. Es entstand zugleich als »Trutzburg« gegenüber dem Stift, seine Errichtung fällt mit dem Papenkrieg 1453–1468 zusammen, einem Streit um die Äbtissinnenwürde.

Das Rathaus wurde nach dem Stadtbrand 1580 mit der Mauritiuskirche baulich vereinigt. Es ist geprägt von der Weserrenaissance. Obwohl die Stadtgemeinde seit der Reformation in der Stiftskirche den Gottesdienst hörte, wurde im 17. Jahrhundert die verhältnismäßig kleine Georgskirche zur Repräsentation der Stadtgemeinde ausgestaltet. In Folge des Papenkrieges konnte die Stadt mit der Errichtung der sogenannten Tummelburg, eines festen, mehrstöckigen Hauses in der Stiftsimmunität direkt gegenüber der Abtei, das Stift eingrenzen. Bezeichnend ist, dass das städtische Wappen nicht an die Tradition des Reichsstifts anschließt, sondern den Helm mit Büffelhörnern des hzl.en Hauses Lüneburg zeigt.

Bis zur Reformation zeigte die Äbtissin durch alljährliche Prozessionen um die Mauern sowie in allen Kirchen ihren Anspruch als Stadtherrin. Im 18. Jahrhundert erinnerte das in der Stiftskirche und der Abtei gefeierte Liudolfsfest an den Stiftsgründer.

(5) G. war als Marktort lediglich von regionaler Bedeutung. Auch die im Jahre 1416 von Herzog Otto Cocles genehmigten drei Freimärkte im Jahr konnten keine größere Ausstrahlung entwickeln. Gleichwohl lässt die Marktfunktion eine gewisse Vernetzung erkennen: So waren beispielsweise im 15. Jahrhundert neben den Hildesheimer Dominikanern auch die Einbecker Augustiner-Eremiten und die Goslarer Franziskaner mit einer Terminei in G. vertreten.

Mit dem Anfall des Göttinger Territoriums an die Wolfenbütteler Herzöge im 15. Jahrhundert gewann G. als südlicher Vorposten im Leinegebiet an Bedeutung. Als politischer und administrativer Zentralort ist G. jedoch nur bis in das ausgehende 16. Jahrhundert anzusprechen.

(6) Während die Äbtissinnen bis zum 12. Jahrhundert unangefochten die Stadtherrschaft ausübten, konnten sich die welfischen Herzöge spätestens seit dem 14. Jahrhundert als Schutzherren G.s etablieren. Im Kräftespiel zwischen Stift und Herzog errang der städtische Rat jedoch nur bedingt Autonomie. Dieser Konflikt konnte auch nicht dadurch gelöst werden, dass es den Welfen ab 1402 nahezu dauerhaft gelang, eigene Familienangehörige als Äbtissinnen zu installieren. Mit Einführung der Reformation und dem Abschluss des Großen Vertrages 1593 weitete der Herzog seinen Einfluss auf die Besetzung des Kanonikerkapitels aus und ließ seine Amtsträger durch Stiftspfründen versorgen. Die Rolle G.s als welfische Nebenresidenz mit Schloss, Stadtpalais und Schlosskirche (Franziskaner) blieb jedoch auf die Zeit zwischen dem ausgehenden 15. Jahrhundert und dem endenden 16. Jahrhundert beschränkt.

(7) Die Hauptüberlieferung zu Stadt, Stift und herzoglichem Amt befindet sich im Staatsarchiv Wolfenbüttel, siehe: Die Bestände des Staatsarchivs Wolfenbüttel, bearb. von Horst-Rüdiger Jarck, Göttingen 2005 (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, 60).

Teile der stiftischen Überlieferung sind abgedruckt in den älteren Stiftschroniken: Leuckfeld, Johann Georg: Antiquitates Gandersheimenses. Oder Historische Beschreibung Des Uhralten Kayserl. Freyen Weltlichen Reichs-Stiffts Gandersheim […], Wolfenbüttel 1709. – Harenberg, Johann Christoph: Historia ecclesiae Gandershemensis cathedralis ac collegiatae diplomatica, Hannover 1734. Für die Entwicklung der städtischen Bevölkerung seit dem späten Mittelalter siehe Häuserchronik der Stadt Bad Gandersheim, bearb. von Kurt Kronenberg, Hildesheim 1983 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, XXXIV; Quellen und Untersuchungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Niedersachsens in der Neuzeit, 10). Früheste Ansichten Gandersheims: Federzeichnung des Amtmanns Johannes Scharf 1580 (Gandersheim von Westen), Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, L Alt 26 Nr. 116; Stifft, Schloss und Statt Gandersheim. Zeichnung von Konrad Buno 1652, als Stich in: Zeiller, Martin, Merian d. Ä., Matthaeus: Topographia und Eigentliche Beschreibung Der Vornembsten Stäte, Schlösser auch anderer Plätze und Örter in denen Hertzogthümern Braunschweig und Lüneburg, und denen dazu gehörenden Grafschafften Herrschafften und Landen, Frankfurt/Main 1654.

(8)Steinacker, Karl: Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Gandersheim, Wolfenbüttel 1910 (Die Bau- und Kunstdenkmäler des Herzogtums Braunschweig, 5). – Mühe, Adolf: Geschichte der Stadt Bad Gandersheim, Bad Gandersheim 21950. – Goetting, Hans: Das reichsunmittelbare Kanonissenstift Gandersheim, Berlin/New York 1973 (Germania Sacra, N.F. 7; Das Bistum Hildesheim, 1). – Ders.: Das Benediktiner(innen)kloster Brunshausen. Das Benediktinerinnenkloster St. Marien vor Gandersheim. Das Benediktinerkloster Clus. Das Franziskanerkloster Gandersheim, Berlin/New York 1974 (Germania Sacra, N.F. 8; Das Bistum Hildesheim, 2). – Kronenberg, Kurt: Chronik der Stadt Bad Gandersheim, Bad Gandersheim 1978. – Römer, Christof: Gandersheim als landesherrliche Residenzstadt, in: Harz-Zeitschrift 34 (1982) S. 1–15. – Scholz, Michael: Reichsfreies Stift und herzogliche Landstadt. Gandersheim als weltliche und geistliche Residenz im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Harz-Zeitschrift 50/51 (1998/99) S. 59–81. – Scholz, Michael: … und maket dat keyserfreie stifft unfrei. Das Reichsstift Gandersheim im Jahrhundert der Reformation, in: Gandersheim und Essen. Vergleichende Untersuchungen zu sächsischen Frauenstiften, hg. von Martin Hoernes und Hedwig Röckelein, Essen 2006 (Essener Forschungen zum Frauenstift, 4), S. 173–190. – Kuper, Gaby: Gandersheim. Zwischen Landesherrschaft und Reichsstift, in: Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Braunschweigischen Landes vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 1: Mittelalter, hg. von Claudia Märtl, Karl Heinrich Kaufhold und Jörg Leuschner, Hildesheim/Zürich/New York 2008, S. 509–536. – Popp, Christian: (Bad) Gandersheim – Kanonissenstift (Reichsstift), in: Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, Bd. 1., hg. von Josef Dolle, Bielefeld 2012 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen, 56), S. 432–450. – Popp, Christian: (Bad) Gandersheim – Franziskaner-Observanten, in: ebd., S. 455–458.

Thorsten Henke, Christian Popp