Wer Törichtes sprach, wurde ausgeschlossen

"QumranDigital" gibt Einblicke ins Leben einer jüdischen Gemeinschaft

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Eine der Höhlen, in denen Schriftrollen gefunden wurden.

Schon in der jüdischen Antike gab es eine Art von ökologischem Bewusstsein, auch wenn man das damals nicht so nannte.

Man durfte beispielsweise kein Rind, kein Schaf und auch keine Ziege opfern, die trächtig waren. Und fand man ein Nest, in dem eine Vogelmutter auf den Eiern oder ihren Jungen saß, so durfte man die Jungen zwar nehmen, aber die Mutter musste man freilassen. Überliefert wurden diese Gebote in Schriften, die Teil des spektakulären Qumran-Fundes sind. Ein Beduinenjunge hatte im Jahre 1947 auf der Suche nach einer entlaufenen Ziege in einer Höhle nahe der Ruinensiedlung Chirbet Qumran am Westufer des Toten Meeres rund 2000 Jahre alte Schriftrollen in Tonkrügen entdeckt. In den folgenden Jahren fand man in dem Gebiet Überreste von rund 1000 Schriftrollen, darunter die ältesten überlieferten Bibelhandschriften überhaupt und Hunderte von Abschriften anderer, der biblischen Literatur nahestehender Werke, die Zeugnisse des jüdischen Lebens aus der Zeit vom 3. Jh. v. Chr.- 2. Jh. n. Chr. sind.

 

Ohne hochspezialisierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten Historiker, Theologen, Literaturwissenschaftler und andere Interessierte mit dieser wichtigen archäologischen Entdeckung  allerdings wenig anfangen. Eine dringend nötige Grundlage für die Erschließung der Texte ist das erste Lexikon des „Qumran-Hebräisch“, an dem Forscherinnen und Forscher der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen seit vielen Jahren arbeiten. Gefördert wurde das Vorhaben zunächst von 2002–2005 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), sodann von 2006 bis 2019 vom Bund und dem Land Niedersachsen über das Akademienprogramm; seit September 2021 kann das Projekt für zwölf Jahre wieder aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft fortgeführt werden. Das Folgeprojekt „Qumran Digital – Text und Lexikon“ wird das philologische Lexikon zu den hebräischen und aramäischen Handschriften vom Toten Meer vervollständigen und sukzessive online publizieren. Dabei wird das neue Web-Angebot den Nutzern einige zusätzliche Vorteile gegenüber der Printversion bieten. Neben den klassischen Wörterbuchartikeln wird auch die umfangreiche Materialsammlung frei verfügbar gemacht. So sollen etwa die Originaltexte, in denen das gesuchte Wort vorkommt, angezeigt und seine Varianten aufgeführt werden, denn oftmals sind die Handschriften nur schwer zu entziffern, so dass es mehrere Möglichkeiten der Deutung eines Wortes gibt.

Geleitet wird das Projekt von Prof. Dr. Reinhard Kratz, durchgeführt von apl. Prof. Dr. Annette Steudel und Priv. Doz. Dr. Ingo Kottsieper, die bereits für das analoge Vorgängerprojekt an der Göttinger Akademie der Wissenschaften verantwortlich waren, sowie Dr. Bronson Brown-deVost. Mit einem erfahrenen Team wurden in dem Vorgängerprojekt bereits zwei erste Wörterbuchbände im Druck publiziert, die in dem neuen Projekt ebenfalls online frei verfügbar gemacht werden. Um in dem Vorhaben arbeiten zu können, muss man über sehr gute Hebräisch- und Aramäisch-Kenntnisse verfügen und sich im Idealfall mit biblischen und antik-jüdischen, insbesondere den Qumran-Texten auskennen. „Aber Leute, die speziell für unsere Arbeit ausgebildet sind, also auch etwa auf dem Gebiet der Lexikographie, gibt es nicht“, sagt Steudel.
Kratz verweist darauf, dass viele der biblischen und parabiblischen Schriften von Qumran schon aus der hebräischen oder der griechischen Bibel bekannt seien. Interessant sei jedoch, dass die Texte immer wieder in verschiedenen Fassungen und teilweise auch in inhaltlich voneinander abweichenden Wiedergaben zu finden seien – für den Bibelwissenschaftler ein weiterer Beleg dafür, dass es in dieser Zeit noch keinen festgelegten kanonischen Text gab.

 

Für Steudel, die die Arbeitsstelle leitet und vor allem für die semantische Erschließung des Materials zuständig ist, sind vor allem jene Texte interessant, die Erkenntnisse über die Vorstellungs- und Lebenswelten der damaligen Gemeinschaft bieten. Jene jüdische Gruppe habe nicht nur am Toten Meer gelebt, sondern auch an vielen anderen Orten, unter anderem in Jerusalem. Das Besondere an der Qumran-Gemeinschaft sei gewesen, dass sie ihr Leben radikal an der Thora ausgerichtet habe, was auch für die damalige Zeit nicht die Regel gewesen sei. Vor allem die „Gemeinschaftsregel (S)“ und die „Damaskusschrift (D)“, beide aus dem 2. Jahrhundert v. Chr., bieten Steudel zufolge spannende Einblicke in die Lebensverhältnisse der Gemeinschaft. So wurde der, der während einer Sitzung einschlief, mit 30 Tagen Ausschluss bestraft, wer ein törichtes Wort sprach, mit drei Monaten, und jemand, der ohne triftigen Grund nackt umherging, mit sechs Monaten. Hunde durften nicht nach Jerusalem, das als heilig galt, gebracht werden, damit sie dort im Tempelbezirk nicht die Opferknochen fressen konnten.
Ingo Kottsieper ist als Semitist für die sprachwissenschaftliche Erschließung des Materials verantwortlich, wobei ihm die Einordnung des Wortschatzes in die hebräische Sprachgeschichte besonders wichtig ist. Daneben wird er gemeinsam mit dem neuen Kollegen Bronson Brown-deVost, ebenfalls ein Semitist, für den Online-Auftritt zuständig sein. Allerdings hat er dafür bereits umfangreiche Vorarbeiten geleistet und schon zu Beginn des Projekts eine auf seine besonderen Bedürfnisse zugeschnittene Datenbank entwickelt. „Das war zu Beginn des Jahrtausends durchaus noch nicht üblich“, sagt Kottsieper.
Die Originale der Handschriften, mit denen sich die Qumran-Forscherinnen und -Forscher täglich befassen, liegen im Israel-Museum in Jerusalem, aber auf der Webseite der Leon Levy Dead Sea Scrolls Digital Library, einer frei zugänglichen digitalen Bibliothek, stehen bereits hunderte von Aufnahmen der Textfragmente, die mit Hilfe modernster Technologie multispektral und in hoher Auflösung hergestellt wurden. Die Abbildungen entsprechen in ihrer Qualität und Darstellung den Handschriften, und die verwandte Technologie gestattet es sogar, Tintenspuren, die im Laufe der Jahre bis zur Unsichtbarkeit verblasst sind, mit Hilfe von speziellem Licht wie z.B. Infrarot zu erkennen. Die Arbeitsstelle hat damit das Quellenmaterial zumindest virtuell direkt auf dem Schreibtisch. Die vorher üblichen, regelmäßigen Reisen nach Israel sind daher nur noch in besonderen Fällen nötig. Die Fülle des Materials findet Steudel überwältigend: „Dabei sind die 1000 Handschriften ja nur noch die Reste einer riesigen Handschriftensammlung, einer Art Bibliothek, die vermutlich während des ersten jüdischen Aufstands gegen die Römer in den Höhlen versteckt wurde.“ alo

Eine Sendung des DLF über das neue Projekt finden Sie hier